20.12.2023,
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Wien (OTS) - Weihnachtszeit und Jahreswechsel sind keine stillen
Zeiten. Sie bringen viele Menschen an den Rand ihrer psychischen
Belastungsgrenze. IBG-Arbeitspsychologin Regina Nicham erzählt, warum
das Thema Mental Health immer mehr Personen beschäftigt, wie
sinnvolle Arbeit Geist und Körper gesund hält und was Betroffene
unternehmen können, um sich aus dem Dunkel zu befreien.
Zwtl.: Frau Nicham, gibt es heute mehr Bewusstsein für psychische
Gesundheit als vor zehn Jahren?
Regina Nicham: Auf alle Fälle. Mental Health ist vermehrt im
Gespräch – in der Gesellschaft, in den Unternehmen, in den Medien.
Die Sensibilität gegenüber dem Thema ist seit der Pandemie noch
einmal gewachsen. Es kommen heute Menschen zu mir, deren Selbstbild
dies früher nie zugelassen hätte. Da hat sich in den letzten Jahren
viel gebessert.
Zwtl.: Ist die Psyche der Menschen kränker geworden oder sind wir
heute nur aufmerksamer?
Das sind zwei Seiten derselben Medaille. Es gibt natürlich
veränderte Bedingungen, die auf uns einwirken und unsere mentale
Gesundheit beeinträchtigen. Themen wie Digitalisierung und KI bringen
viel Gutes, verursachen aber auch Ängste. Die Erreichbarkeit – im
privaten wie beruflichen – ist ein häufiger Grund, den ich als
Stressauslöser beobachte. Die ständige Verfügbarkeit erlaubt uns kaum
Pausen. Es gibt viele externe Gründe, die psychisch auf uns einwirken
und neue Bewältigungsstrategien von uns verlangen. Die zweite Seite
der Medaille ist die gesellschaftliche Sensibilisierung, die sehr zu
begrüßen ist. Wenn man sich nicht selbst betroffen fühlt, kennt fast
jeder jemanden, der schon einmal betroffen war. Dadurch gibt es eine
deutlich höhere Akzeptanz gegenüber psychischen Erkrankungen.
Zwtl.: Sinkt die Hemmschwelle, sich geschulten Expertinnen und
Experten anzuvertrauen?
Ich denke, dass es so ist. Man beschäftigt sich deutlich mehr mit
dem Thema. Dadurch wird es sichtbarer. Ich bin überzeugt, dass früher
psychische Beeinträchtigungen durch Arbeit und Überlastung ebenfalls
gegenwärtig waren. Man hat es aber verdrängt.
Zwtl.: Was sind die Symptome von mentaler Überlastung?
Dinge, die sonst Freude bereiten, machen keinen Spaß mehr. Es
fällt mit jedem Tag schwerer, sich zu motivieren. Dazu kommen
Stimmungsschwankungen: Die Arbeit nervt, und man hat keine Ambition
mehr zu sozialen Aktivitäten. Schon der Morgen beginnt mit einer
bleiernen Müdigkeit oder es zeigen sich psychosomatische Symptome wie
Schlafprobleme, Verdauungsprobleme, Kopfschmerzen, Herzrasen.
Zwtl.: Der Schlaf als Ausweis der Seele?
Schlaf ist ein verlässlicher Indikator für die mentale
Befindlichkeit. Jeder kennt die Phasen, in denen man schlecht
schläft, weil einen etwas umtreibt. Wenn es aber zum Dauerzustand
wird, dass man z.B, am Morgen nicht ausgeruht ist und sich wie
gerädert fühlt, dann sollte man sich Hilfe holen.
Zwtl.: Reagieren Frauen auf psychische Beeinträchtigungen anders als
Männer?
Frauen leider häufiger z.B. unter Depressionen oder Angststörungen
als Männer. Dafür gibt es vielfältige Ursachen, wie etwa ein
Zusammenspiel biologischer und psychosozialer, aber auch
gesellschaftlicher Aspekte. Die Frauenrolle ermöglicht es eher, über
Emotionen und Gefühle zu reden und sich einzugestehen, dass es einem
nicht so gut geht. Männer, die gelernt haben stark sein zu müssen
können das weniger gut. Sie zögern, Hilfe und Unterstützung bei
Psycholog:innen oder Psychotherapeut:innen zu suchen. Männer mit
psychischen Problemen kehren das eher nach außen mit Folgen von
Suchterkrankungen oder Aggression.
Zwtl.: Laut Studien leiden Jugendliche vermehrt unter schlechter
mentaler Gesundheit. Schlagen sich die ständigen Krisen mit Kriegen
und Klimawandel bei den Heranwachsenden auf das Gemüt?
Ja, das glaube ich schon. Und es ist ihnen auch nicht zu
verdenken. Jugendliche brauchen positive Perspektiven. Ein Scroll
durch die Nachrichtenfeeds von Instagram gibt derzeit nicht viel
Anlass, an das Gute im Menschen zu glauben. Ich bin auch überzeugt,
dass der massive Einsatz der sozialen Medien die empfangenen
Eindrücke – egal ob negativ oder positiv – verstärkt. Und wir kämpfen
bei den Jugendlichen zusätzlich mit starken Nachwirkungen der
Pandemie. Wenn sich soziale Kontakte über lange Zeit auf das
Smartphone reduzieren, bleibt dies nicht ohne Auswirkung. Das ist für
Jugendliche schwieriger zu verarbeiten als für Erwachsene.
Zwtl.: Welchen Einfluss hat der Bereich der Arbeit auf die mentale
Gesundheit?
Einen sehr großen. Arbeit ist ein wichtiger Teil unseres Lebens.
Wenn man die Schlafenszeit weglässt, verbringen wir meist mehr Zeit
im Unternehmen und mit den Arbeitskolleg:innen als im privaten
Umfeld. Dazu kommt ein elementares Faktum: Der Mensch braucht
Aufgaben, um gesund zu bleiben. Jeder Mann und jede Frau suchen eine
Herausforderung, um einen Platz im sozialen Gefüge zu erobern.
Erfolgserlebnisse sind wichtig. Arbeit liefert Ziele und Sinn. Wenn
ein Mitarbeitender in einem Unternehmen mit funktionierender
Führungs- und Unternehmenskultur arbeitet, in der er oder sie zur
Entfaltung kommt und sich wieder findet, dann ist ein ganz
wesentlicher Beitrag zur Gesundheit gegeben – und zwar nicht nur
mental. Der Mensch ist unter gut gemanagten Arbeitsbedingungen
psychisch, physisch und sozial gut versorgt. Das Ergebnis sind
gesunde und leistungsfähige Mitarbeiter:innen. Vorzeitiger Ruhestand
ist unter guten Umständen nichts, was angestrebt wird. Aber wenn die
Kolleginnen und Kollegen die Firma in der Früh mit Bauchweh betreten,
wenn sie sich unter- oder überfordert fühlen, wenn Erholung nicht
mehr möglich ist und der Job für den Mitarbeitenden keinen Sinn
ergibt, dann kommt es zu überdurchschnittlichen Krankenständen und
Frühpensionierungen. Das sollte für jedes Management ein lautes
Alarmsignal sein. Denn dann liegt viel im Argen.
Zwtl.: Was kann der Arbeitgeber tun, um die Rahmenbedingungen zu
verbessern?
Es ist wichtig, die Frage der mentalen Gesundheit im Unternehmen
zu thematisieren und Führungskräfte zu schulen. Eine gesunde
Führungskultur mit Anerkennung und Wertschätzung ist entscheidend.
Sensibilisierung ist das Zauberwort. Dann kann man frühzeitig Hilfe
organisieren. Aber Vorsicht: Führungskräfte sind keine
Therapeut:innen. Wenn sich ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin im
Wesen, in der Leistung oder auch in der Optik verändert, sollte man
dies ansprechen. Aber es bedeutet nicht, dass die Führungskraft
therapierend eingreifen muss. Sie sollte nur auf Strukturen
zurückgreifen können, die zu helfen wissen.
Zwtl.: Wenn man als Betroffener merkt, dass es einem schlecht geht:
Was ist zu tun?
Wichtig ist, es ernst zu nehmen und auf seine Warnsymptome zu
hören. Selbstfürsorge ist entscheidend. Es ist leider auch ein Teil
der Symptomatik, dass die Betroffenen ihre Probleme und die
Veränderungen nicht wahrhaben wollen. Ein kurzer E-Mail-Check noch
kurz vor dem Einschlafen oder auch in der Freizeit ist nicht
unüblich. Dadurch verkürzt sich der Abstand zwischen Arbeit bzw.
Feierabend und nächtlicher Erholung Schlafstörungen sind oft die
Konsequenz. Man sollte schauen, wie man mehr Erholung und Abstand zu
den belastenden Dingen in seinem Leben bringen kann. Dann stellt sich
die Frage: Gibt es im Unternehmen das Angebot einer
arbeitspsychologischen Beratung? Wenn nicht, ist der Gang zu einer/m
externen Therapeut:in sinnvoll.
Zwtl.: Was kann man sich von einer therapeutischen Behandlung
erwarten?
Therapie bietet eine neutrale Begleitung und Unterstützung.
Die/der Therapeut:in gibt Impulse, hilft, Muster zu erkennen und sich
mit ihnen auseinanderzusetzen. Es geht darum, sich selbst besser
kennenzulernen und langfristig auch gesünder mit Belastungen
umzugehen.
Zwtl.: Bedeutet Gesundung, wieder höheren Belastungen standzuhalten?
Das wäre der falsche Ansatz. Es geht mehr darum, Muster zu
verändern, um langfristig gesund zu bleiben. Es ist wichtig,
frühzeitig Warnsignale zu erkennen und sich besser zu spüren.
Therapie hilft dabei, eine andere Perspektive einzunehmen und mit
Stresssituationen besser umzugehen. Das Ziel ist, nicht wieder in die
gleiche Situation zu geraten.
Zur Person:
Mag.a Regina Nicham ist Leiterin der IBG-Arbeits- und
Organisationspsychologie. Mit dem Schwerpunkt auf der Förderung einer
gesunden Arbeitsumgebung unterstützt sie Unternehmen, um eine
positive Mental-Health-Kultur zu schaffen.
IBG GmbH, gegründet 1995, ist mit über 200 Mitarbeiter:innen,
davon 80 Arbeitsmediziner:innen, Österreichs größte
Unternehmensberatung im Bereich des Betrieblichen
Gesundheitsmanagement. IBG ist in ganz Österreich vertreten.
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