19.10.2022, 3668 Zeichen
Wir streben danach, bestimmte komplexe Prozesse, nachdem wir sie verstanden haben, oder dies zumindest glauben, zu pauschalieren und somit zu vereinfachen. Klug, denn andauernd darüber nachzudenken wie Verkehrsregeln funktionieren oder man einen Blinddarm erfolgreich entfernt, kostet zu viel Zeit und wohl auch Energie. Genauso an den Kapitalmärkten. Eine einmal gewonnene Einsicht wird zumeist über längere Zeiten hinweg als tauglich anerkannt und dabei in Kauf genommen, es später vielleicht erst am Ergebnis zu erkennen, ob sie das auch wirklich ist.
Wir haben uns auf diese Art und Weise an den Börsen so die eine oder andere Hilfe etabliert. Ob es Charts sind, geübte Handelsmuster, immer die gleichen Informationsquellen oder historische Daten, die elegant in die Wirklichkeit interpoliert werden. Ein bunter Strauß an Informationen, die zu Annahmen verknüpft werden, um rasches aber vielfach gleichläufiges Agieren zu ermöglichen.
Das funktioniert. Aber nicht immer. Eigentlich fast nie, weil sich die Umstände ja auch permanent ändern, aber wer sucht schon nach den wahren Parametern, wenn man trotzdem, vielleicht aus ganz anderen Gründen, richtig liegt. Im 16. Jahrhundert entstand die Erzählung von einem Milchmädchen, das am Weg zum Markt, um dort die Milch zu verkaufen, die es mühsam zuvor gemolken hatte, zu träumen begann, was es denn mit dem dort erzielten Geld alles machen könnte. Die Fantasie blühte, im Geiste wurden Kleider gekauft, Bekanntschaften gemacht, das Leben änderte sich sprunghaft, wendete sich zum Glück, alles nur weil die Milch so gut verkauft wurde und … da fiel dem Mädchen der Krug vom Kopf und zerbrach. Diese Fantasierechnung, die dieses Mädchen machte, nennt man seither Milchmädchenrechnung. Ist kein weibliches Attribut. Es gibt auch genug Erzählungen über Männer, die ihren Erwartungen zu sehr folgten, es zeigt nur wie wichtig es ist, auch in seiner Fantasie den Boden, bzw. die Kontrolle am Boden zu sein, nicht aus den Augen verlieren sollte.
Man ist geneigt, sich diese Geschichte als schmunzelnde Story für die Enkeln aufzuheben, aber sie ist weit mehr real als wir uns zugeben getrauen. Da ist im United Kingdom eine Premierministerin, die einfach Allen alles schenken will, damit die Leute glücklich sind und sie wieder wählen. Das finanziert sie einfach mit Anleihen, die irgendwelche Andere zeichnen sollen. Easy. Oder da gibt es Politiker, die glauben, dass der Strom wohl eh nur aus der Steckdose kommt und die aktuelle Situation an den Energiemärkte eine tolle Chance wäre, gleich morgen, ruck zuck, alles auf alternative Energien umzustellen. Die paar Monate oder Jahre ohne Strom, die damit samt wirtschaftlichem Niedergang verbunden wären, kann man locker im selbstgestrickten Pullover überdauern während man Atomkraftwerke samt deren unbenutzten Brennstäben teuer entsorgt. Der Planet, samt China, das es dann noch leichter hat, wird es uns, samt unseren Kindern, die uns jetzt schon schief ansehen, sicher danken. Oder auch die Notenbanken, die aus historischen Daten genau wissen, was bei Inflation zu machen ist. Ob die aus Konsumwut oder vielleicht aus externen Energieverknappungen heraus resultiert, ist völlig egal. Who cares. Man muss nur energisch und entschlossen vorgehen. Der Rest kommt dann schon. Im besten Fall nur ein Signal an die Lohnpreisverhandlungen via rezessive Tendenzen oder doch Milchmädchen?
In UK und Deutschland sind die Milchkrüge bereits von den Köpfen gefallen und haben betroffene Erkenntnisgewinne ausgelöst. Bei den Notenbanken sind sie einmal vom Kopf gekippt, aber sie fliegen noch.
(Der Input von Wolfgang Matejka für den http://www.boerse-social.com/gabb vom 19.10.)
Börsepeople im Podcast S16/12: Thomas Eccli
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