25.04.2019, 9234 Zeichen
In den vergangenen Jahren erlebte der Einzelhandel einen grundlegenden Strukturwandel. Das Internetgeschäft boomt, und den Verbrauchern bieten sich neue Einkaufsmöglichkeiten. Im Folgenden erörtern Fondsmanager von GAM Investments ausgewählte Chancen im Zusammenhang mit dem Einzelhandelssektor und seiner weiteren Entwicklung.
Der konventionelle Einzelhandel hatte es in den vergangenen Jahren nicht leicht. Viele renommierte Unternehmen mussten Konkurs anmelden, tausende Arbeitsplätze gingen verloren, und die Sorge um die Zukunft des Sektors nahm zu. Allein in Großbritannien meldeten in den vergangenen zwei Jahren Toys R Us, Maplin, HMV und PoundWorld Konkurs an. Darüber hinaus hatten etliche andere etablierte Konzerne wie M&S und New Look im letzten Weihnachtsgeschäft unter den widrigen Handelsbedingungen zu leiden.
Hauptursache für diese Misere ist der strukturelle Wandel des Einzelhandelssektors mit einem florierenden Internetgeschäft und völlig neuem Einkaufsverhalten der Verbraucher. GAM Investments ist jedoch davon überzeugt, dass sich trotz der laufenden Veränderung des Einzelhandelssektors unverändert ausgewählte Anlagechancen bieten.
Niall Gallagher, Investment Director für europäische Aktien: Dass der Trend zum E-Commerce erheblich zum Rückgang der Kundenströme in den Innenstädten beigetragen hat, ist kein Geheimnis – sehr zum Leidwesen der klassischen Marken und Kaufhäuser. Doch auch die Gewinner des Wandels bleiben von den Problemen des Einzelhandels nicht verschont. So wurden weitsichtig agierende Firmen benachteiligt, die massiv in IT und Logistik investierten, um ihre Bestände optimal auf die Bedürfnisse sowohl von Online- als auch Offline-Kunden abzustimmen. Dazu gehört Inditex, ein Unternehmen, das vor allem für sein Modelabel Zara bekannt ist. Mit seinem integrierten Ansatz aus unzähligen Möglichkeiten für Verbraucher – wie online einkaufen, im Laden abholen oder zurückgeben, usw. – konnte sich der Textilkonzern eine operative Marge im mittleren Bereich zwischen 10 und 20% sichern – und das in einer Branche, die nur knapp ein ausgeglichenes Ergebnis verzeichnet. Zalando , ein reiner Online-Versandhändler, passt derzeit sein Geschäftsmodell an, um es zukunftstauglich zu machen. Das Unternehmen entwickelt sich zu einer Plattform, über die Einzelhändler eigene Warenbestände nach ihren Wünschen an die 26 Millionen Zalando-Kunden vertreiben können.
Beide Unternehmen stehen vor den gleichen Problemen der Vorratshaltung: zu viel, zu wenig oder die falschen Artikel am falschen Ort. Als Lösung versucht Inditex, sein Angebot mit der ganzheitlichen Betrachtung seines Inventars und der Verbindung von Kunst und Wissenschaft erfolgreich auf die Nachfrage abzustimmen. Das bedeutet, sich bei den Filialleitern über angesagte Modetrends und nachgefragte Artikel zu informieren und firmeneigene Top-Down-Algorithmen zu implementieren, die den einzelnen Läden Waren zuteilen.
Tim Love, Investment Director für Schwellenländeraktien: Sollte die Mittelschicht in China zwischen den Jahren 2009 und 2030 wie erwartet von 12% auf 73% der Bevölkerung anwachsen, dürfte der chinesische Privatkonsum das 2,5-fache des US-Privatverbrauchs betragen. Schon jetzt greifen mehr Chinesen als Amerikaner, Brasilianer und Indonesier zusammengenommen über ein Mobiltelefon auf das Internet zu. Etwa die Hälfte der Online-Käufe wird in China mit dem Handy abgewickelt. In den USA beträgt der Anteil nur etwa ein Drittel. Für den Einzelhandel bricht eine neue Ära an, in der die gesamte Wertschöpfungskette digitalisiert wird. Smartphones, soziale Medien, mobile Bezahllösungen und E-Commerce haben sich in den Ballungszentren längst fest etabliert. Wo Urbanisierung und Digitalisierung rasch voranschreiten, die verfügbaren Einkommen steigen und sich der Lebensstil verändert, entwickelt sich beispielsweise in Indien der Einzelhandelssektor schneller als je zuvor. Wir sind der Ansicht, dass mittlerweile ein Wendepunkt erreicht ist, an dem der organisierte Einzelhandel und Konsum in Indien einen Wachstumskurs einschlagen. Der indische Einzelhandelssektor ist in hohem Maße fragmentiert. 97% der Unternehmen werden von unorganisierten Händlern geführt, beispielsweise von traditionellen Familienbetrieben und typischen Minimärkten. Aus diesem Grund erwarten wir in diesem Segment ein enormes Wachstumspotenzial.
Das bedeutet aber auch, dass die Einzelhändler mit der Zeit gehen, innovativ sein und ihre Kräfte bündeln müssen, damit der Weg des Kunden zum Einkauf möglichst reibungslos verläuft. Erfolg heißt im neuen Einzelhandelsumfeld nicht, das laufende oder nächste Quartal durchzustehen, sondern sich für das nächste Jahr und die darauf folgenden Jahre zu rüsten. Die Unternehmen müssen sich überlegen, wie sie anstatt des größten kurzfristigen Werts den maximalen Nutzen aus dem Kunden über einen gesamten Lebenszyklus ziehen. Je nach Modell kann dies auch eine neue Sichtweise auf Geschäftsinvestitionen und Margen erfordern.
Mark Hawtin, Investment Director für Technologieaktien: Insbesondere der Einzelhandel erfährt eine faszinierende Disruption: Es reicht nicht mehr aus, reinen Online-Handel zu betreiben. Noch vor fünf Jahren konnten schnell wachsende Online-Einzelhändler hohe Preisaufschläge durchsetzen. Heute ist die Online-Vermarktung lediglich einer von vielen Vertriebswegen und sollte unbedingt durch andere Kanäle ergänzt werden. Das erklärt, weshalb ein Konzern wie Amazon die Lebensmittelkette Whole Foods übernommen hat. Die Kombination der verschiedenen Vertriebskanäle, mit denen der Markt erreicht werden kann, macht den ausschlaggebenden Unterschied, weshalb wir es für abwegig halten, einen deutlichen Aufschlag für reine Online-Händler zu zahlen. Vermutlich ist das auch der Grund, weshalb das Versandunternehmen Asos, das keine Omnichannel-Strategie verfolgt, zuletzt etwas zu kämpfen hatte. Nach unserer Einschätzung geht es im Einzelhandel nicht mehr allein um den stationären Verkauf, sondern um vielfältige Möglichkeiten, Kunden zu erreichen. Und es kommt sehr deutlich zum Ausdruck, dass Unternehmen, die mehrere Vertriebskanäle gleichzeitig nutzen, wesentlich mehr Produkte verkaufen.
Swetha Ramachandran, Investmentmanagerin für Luxusaktien: Obwohl beim Kauf von Luxusgütern das Einkaufserlebnis und die Servicekomponente höher gewichtet werden, und dies online noch nicht im gleichen Umfang ermöglicht werden kann, ist auch diese Branche nicht völlig gegen die Dynamik immun, die im preisgünstigeren Einzelhandelssegment zu den drastischen Umsatzrückgängen geführt hat. Um Abhilfe zu schaffen und das Interesse für ihre stationären Geschäfte zu wecken, setzen Luxusunternehmen verstärkt auf Innovation, insbesondere in Form von Pop-up-Stores. Chanel und Tiffany nutzen diese neuen temporären Boutiquen mit einer kleinen, aber feinen Produktauswahl nicht nur als Marketinginstrument, sondern wollen damit auch ihre Profitabilität steigern, indem sie den zunehmenden Durst ihrer Kundinnen und Kunden nach Neuem und Individuellem stillen. Die Zusammenarbeit von etablierten Luxusfirmen mit aufstrebenden Marken hat bei den Kunden für rege Begeisterung gesorgt, beispielsweise die Kooperation «Louis Vuitton x Supreme»: Der plötzliche Ansturm auf teilnehmende Filialen erinnerte an den iPhone-Hype bei Apple .
Für die kooperierenden Marken ist es eine «Win-win»-Situation. Der Kunde ist glücklich, weil er über diese Kanäle ein limitiertes und exklusives Produkt ergattern kann. Die Unternehmen freuen sich, dass sie ein neues, wahrscheinlich jüngeres Publikum anziehen, für die Marke begeistern und Schritt für Schritt zum Kauf hochpreisiger Produkte überzeugen können.
Der wachsende Trend zum Erlebnis-Shopping lässt sich gut mit der Zunahme innovativer Konzepte vereinbaren, um die Aufmerksamkeit neuer Kunden zu wecken, die Wert auf die Geschichte hinter dem Luxusobjekt legen. Daher verspricht auch die Londoner Filiale von Marchesi 1824, einer in Mailand sehr erfolgreichen Patisserie aus dem Hause Prada, ein Publikumsmagnet zu werden. Nicht auszudenken, wie lang die Schlangen für ein Prada-Törtchen in London sein werden!
Adrian Gosden, Investment Director für britische Aktien: Der Trend zum Online-Shopping hat die Geschäftswelt in den Städten verändert. Die steigenden Kosten für stationäre Einzelhändler im Zusammenhang mit Mindestlöhnen, explodierenden Mieten und Gewerbesteuern tun ihr Übriges. Ohne staatliche Interventionen (Rücknahme der Abgabenerhöhungen) und kommunale Maßnahmen (Städteplanung, Parkplätze) lässt sich diese Entwicklung nach unserer Einschätzung nicht aufhalten. Dennoch ist es einigen Einzelhandelsunternehmen wie Shoe Zone gelungen, der Ödnis in den Innenstädten zu trotzen und beeindruckende flächenbereinigte Umsatzzuwächse zu melden. Das Unternehmen ist ein seltenes Beispiel dafür, dass man sich nicht an Ladenbesitz binden sollte. Mit einer durchschnittlichen Mietdauer von nur zwei Jahren kann es flexibel auf Marktveränderungen reagieren. Daneben wird der Cashflow nicht durch ständige Mieterhöhungen belastet – ein Problem, das bereits so manchen anderen Einzelhändler in die Pleite getrieben hat. Dank dieses Cashflows kann eine dynamische Dividendenpolitik verfolgt werden. Kürzlich wurde sogar eine Sonderdividende angekündigt.
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