26.05.2013, 4708 Zeichen
Eine der schwächeren Seiten der Gegenwart ist ja, dass sie mit der Vergangenheit nicht mithalten kann. Früher waren die Schneewände noch mannshoch, die Wiesen sattgrün, die Bäche glasklar und die Winde lau. Überhaupt war damals alles besser, und vor allem netter. Die Nachbarn waren hilfsbereit, die Menschen nicht so gierig, weil das Leben auch nicht so „durchökonomisiert“ war wie heute. Oder, um es in den Worten der Großelterngeneration zu sagen: „Wir hatten ja nicht viel, aber wir waren glücklich! Und eine Orange, das war schon was!“
Und heute? Heute geht es den Menschen aus Sicht besorgter Politiker zwar besser, aber das nur auf den ersten Blick. Wer etwas genauer hinschaut, bekommt Schlimmes zu sehen. Der Arbeitsdruck steigt unerbittlich, die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer – und selbst im wohlhabenden Österreich stünden bereits über eine Million Menschen mit einem Fuß im Elend, wie Armutsstatistiker erst unlängst wieder vorrechneten. Das vor allem deshalb, weil in unseren Breitengraden die Ungerechtigkeit ihr Unwesen treibt und nur jenen noch mehr gibt, die ohnehin schon alles haben. Während den schwer arbeitenden Massen nur das Nötigste bleibt, vielen nicht einmal mehr das.
Noch schlimmer wird die Sache, wenn man weiß, dass der Reichtum der wenigen von den rohstoffreichen Kontinenten zusammengestohlen wurde. Wer das für zynische Antikapitalismuspolemik hält, sollte hin und wieder Schulbücher heimischer Maturajahrgänge zur Hand nehmen. Im Fach „Geografie und Wirtschaftskunde“ wird die freie Marktwirtschaft als Paradies für die Stärkeren präsentiert, in dem die weniger Begünstigten nichts zu lachen haben.
Die Flucht aus der Armut. Das ist schon deshalb bemerkenswert, weil Millionen von Menschen aus den weniger bevorzugten Teilen dieser Welt Erfreulicheres als die Autoren österreichischer Schulbücher zu berichten hätten. Zum Beispiel die überaus interessante Erzählung von ihrer geglückten Flucht aus der bitteren Armut. Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit wurde das Elend so stark zurückgedrängt wie in den vergangenen 30 Jahren. Allein in dieser Zeitspanne wurden 650 Millionen Menschen aus bitterster Armut befreit. Mussten zu Beginn der 1980er-Jahre noch 43 Prozent der Weltbevölkerung von weniger als einem Dollar leben, sind es heute noch 19 Prozent (inflationsbereinigt).
Das sind um 19 Prozent Arme zu viel, was aber nichts daran ändert, dass das Elend an Kraft verloren hat. Diese Entwicklung ist kein Zufall, sie korreliert mit der Globalisierung der Märkte. Mit Ausnahme von Burma, Venezuela, Zimbabwe, Hongkong und den USA ist die wirtschaftliche Freiheit heute in allen Ländern höher als vor 30 Jahren. Der Wegfall von Handelsbarrieren ermöglichte es Bewohnern ärmerer Regionen, ihre komparativen Kostenvorteile auszuspielen und ihren extrem niedrigen Lebensstandard langsam zu steigern. Schon in knapp zwei Jahrzehnten werden 60 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung aus den heute unterprivilegierten Entwicklungs- und Schwellenländern kommen. Damit werden die armen Regionen ihren Anteil an der Weltwirtschaft innerhalb von drei Jahrzehnten um fast 50 Prozent gesteigert haben. Wer hätte so etwas je für möglich gehalten?
„Ja, aber“, ist an den reichlich gedeckten Tischen der westlichen Wohlstandsgesellschaften zu hören. Nicht zu Unrecht. Weil es immer noch Kinderarbeit gibt, und weil noch immer zu viele Menschen in der Dritten Welt verhungern. Doch die Lage bessert sich. Wer heute in einem der Entwicklungsländer das Licht der Welt erblickt, hat weit höhere Chancen als seine Vorfahren, seine Geburt zu überleben. In China ist die Säuglingssterblichkeit um 85Prozent gesunken, in Indien um zwei Drittel, in Afrika hat sie sich seit 1970 halbiert. Neun von zehn Kindern besuchen heute eine Grundschule, fast 80Prozent der Weltbevölkerung hat Zugang zu elektrischem Strom.
Ein Land rechnet sich arm. Und hierzulande? Hierzulande gibt es zwar immer noch Armut, aber kaum noch Elend. Vier Prozent der Bürger müssen ein sehr bescheidenes Dasein fristen, 96 Prozent nicht. Der Wirtschaftspublizist Michael Hörl („Die Gemeinwohlfalle“) wundert sich, dass Statistiker und Umverteilungspolitiker das Land dennoch armrechnen. So ist nach österreichischer Definition von Armut gefährdet, wer unerwartete Ausgaben von 950 Euro nicht sofort bezahlen und Freunde nicht einmal im Monat zum Essen einladen kann. Also fast jeder Student und jeder Lehrling. Früher war arm, wer kein Dach über dem Kopf und nichts zu essen hatte. Heute ist arm, wer am gesellschaftlichen Leben nicht vollwertig teilhaben kann.
Wie man sieht, kann die Vergangenheit mit der Gegenwart nicht mithalten – und das ist sehr erfreulich. (“Presse”)
franz.schellhorn@diepresse.com
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