23.09.2024, 7974 Zeichen
Wien (OTS) - Die ostmitteleuropäischen EU-Mitglieder (EU-CEE) Polen,
Tschechien,
Slowakei, Ungarn, Slowenien, Kroatien, Rumänien, Bulgarien, Estland,
Lettland und Litauen haben seit den frühen 2000er-Jahren einen
beeindruckenden ökonomischen Aufholprozess hingelegt. Das bisherige
Erfolgsmodell, als „verlängerte Werkbank“ westlicher Konzerne
arbeitsintensive Produktionsschritte zu übernehmen, stößt aber
zunehmend an seine Grenzen. Zu dieser Schlussfolgerung kam das Wiener
Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) 2021 in
einer Studie für die Friedrich-Ebert-Stiftung . In einer 2023
veröffentlichten Folgestudie hat das wiiw daher untersucht, was den
Staaten der Region dabei helfen könnte, dieser „Middle Income Trap“
zu entkommen. Fazit: Die EU-CEE-Länder brauchen eine neue
Industriepolitik, die diesen Namen auch verdient. „ Das verdeutlicht
auch der kürzlich erschienene Bericht des ehemaligen EZB-Präsidenten
Mario Draghi zur Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit.
Draghi mahnt darin zurecht eine europäische Industriepolitik und
massive Investitionen in Schlüsseltechnologien an“ , sagt Zuzana
Zavarská, Ökonomin am wiiw und Co-Autorin einer neuen Studie zum
Thema.
Gelingen kann eine europäisch koordinierte und auf die
spezifischen Bedürfnisse und Stärken des jeweiligen Landes
ausgerichtete Industriepolitik aber nur mit technologischer
Innovationskraft. Im letzten Teil seines Forschungsprojekts für die
Friedrich-Ebert-Stiftung hat sich das wiiw daher angesehen, wie die
EU-CEE-Länder Innovations-Ökosysteme etablieren könnten, die es ihnen
ermöglichen, technologisch und wirtschaftlich zu den globalen
Spitzenreitern aufzuschließen. „Entscheidend wird dabei sein, die
Spitzentechnologien von im Land tätigen ausländischen Konzernen -
siehe Autoindustrie - für die heimischen Unternehmen nutzbar zu
machen und technologische Spillover-Effekte zu generieren“ , sagt
Zuzana Zavarská und verweist auf die Erfolgsgeschichten Irland und
Singapur, denen Ähnliches in der Vergangenheit gelungen sei.
Zwtl.: Region hinkt bei Innovation hinterher
Dabei stehen die EU-Länder in Ostmitteleuropa vor kolossalen
Herausforderungen. „Vor allem geben sie viel zu wenig Geld für
Forschung und Entwicklung aus, was ihre Fähigkeit zur Innovation
beeinträchtigt“ , analysiert Zavarská. Zwar steigen die F&E-Ausgaben
in der Region langsam an, insbesondere in Polen, Tschechien und
Kroatien. Dennoch liegen alle Länder der Region weit unter dem
offiziellen EU-Ziel von 3% der Wirtschaftsleistung für Forschung und
Entwicklung. Nur Slowenien und Tschechien verzeichnen F&E-Ausgaben
von über 2% des BIP, während die Slowakei, Bulgarien, Lettland und
Rumänien unter 1% liegen. Obwohl sich einige Länder der Region durch
den Export von Produkten auf mittlerem bis hohem Technologieniveau
auszeichnen, sind diese zumeist das Resultat importierter Technologie
durch die Präsenz ausländischer Konzerne im Land oder traditioneller
Spezialisierungen.
Technologisches Know-how auf Spitzenniveau ist hauptsächlich
innerhalb der großen multinationalen Unternehmen vorhanden, die in
diesen Ländern Produktionsstandorte unterhalten. Forschung und
Entwicklung finden aber weiterhin zumeist in den westeuropäischen
Konzernzentralen statt. Damit können einheimische Firmen in
Ostmitteleuropa, vor allem kleinere und mittlere, nicht von diesem
Know-how profitieren.
Ein weiteres Problem ist das mangelhafte Bildungssystem. Obwohl
die Region einen recht hohen Anteil an Absolventen und Absolventinnen
in naturwissenschaftlichen Fächern aufweist, ist die Qualität der
Ausbildung oft unzureichend und sind die Universitäten oft chronisch
unterfinanziert. Auch bei grünen Technologien haben die EU-CEE-Länder
noch großen Aufholbedarf. Besser sieht es zwar bei der
Digitalisierung aus. So gibt es zahlreiche innovative Unternehmen,
die auf digitale Technologien spezialisiert sind. Sehr oft handelt es
sich dabei aber um isolierte Erfolgsgeschichten, die nicht in das
Innovations-Ökosystem ihres Landes integriert sind.
Auf der politischen Ebene besteht trotz jüngster Fortschritte ein
genereller Mangel an Koordination und finanzieller Unterstützung für
Aktivitäten in den Bereichen Innovation sowie Forschung und
Entwicklung. Außerdem nutzen die wenigsten ostmitteleuropäische EU-
Mitglieder ihre Möglichkeiten im Rahmen der einschlägigen EU-
Programme in vollem Umfang.
Zwtl.: Irland und Singapur als Vorbilder
Was also tun? Die Studie ortet Irland und Singapur als Vorbilder
für den Aufbau erfolgreicher Innovations-Ökosysteme. Ähnlich wie in
den EU-CEE-Ländern heute, war auch ihr Wirtschaftswachstum noch vor
einigen Jahrzehnten hauptsächlich von ausländischen
Direktinvestitionen großer multinationaler Industriekonzerne
getrieben, mit wenig bis gar keinen Innovationseffekten für die
einheimische Wirtschaft. Irland und Singapur setzen daher seit
geraumer Zeit darauf, nur jene ausländischen Investitionen
anzuziehen, die zur eigenen Wirtschaftsstruktur und den heimischen
Spezialisierungen passen (in Irland wird dieser Ansatz „Innovation by
Invitation“ genannt). Zudem wurde systematisch und sehr fokussiert
auf die Vernetzung der ausländischen Unternehmen mit einheimischen
Firmen und Zulieferern gesetzt, um industrielle Cluster in
aussichtsreichen Nischen entstehen zu lassen. In Irland entwickelte
sich so eine international herausragende Mikroelektronikindustrie.
Außerdem wurden Anreize geschaffen, um die bereits im Land tätigen
ausländischen Konzerne dazu zu bringen, Forschung und Entwicklung
verstärkt vor Ort durchzuführen und so mehr Wertschöpfung ins eigene
Land zu holen.
Ein wesentlicher Erfolgsfaktor waren dabei gut ausgebildete
Fachkräfte. „Sowohl Irland als auch Singapur haben große
Anstrengungen unternommen, um die Berufsausbildung und vor allem auch
die universitäre Bildung in den MINT-Fächern Mathematik, Informatik,
Naturwissenschaften und Technik möglichst praxisnah auf die
Bedürfnisse der eigenen Wirtschaft auszurichten“ , erklärt Zavarská.
Weitere Erfolgsfaktoren waren die massive staatliche Förderung von
Forschung und Entwicklung über Zuschüsse, Subventionen und
Steuererleichterungen, die Stärkung der naturwissenschaftlichen
Forschung an Universitäten, die Schaffung staatlicher
Forschungsförderungs-Agenturen, die Vernetzung von universitärer und
kommerzieller Forschung, gute Rahmenbedingungen für Start-ups oder
die erleichterte Zuwanderung von Hochqualifizierten aus dem Ausland.
Zwtl.: Politikempfehlungen
Die Studie empfiehlt den ostmitteleuropäischen EU-Mitgliedern
daher folgende Maßnahmen: Die Schaffung einer langfristig
orientierten Innovationsstrategie und einer nationalen Agentur zur
Koordinierung aller Innovationsbemühungen; die bessere Nutzung von EU
-Fördertöpfen sowie mehr Geld auf nationaler Ebene für Forschung und
Entwicklung; eine leistungsfähigere Verwaltung und bessere
öffentliche Institutionen; die Förderung lokaler Zulieferer, gezielte
Anreize für Forschung und Entwicklung und vor allem eine stärkere
Vernetzung von heimischen Firmen mit ausländischen Konzernen zur
Etablierung industrieller Cluster in vielversprechenden Bereichen;
die gezielte Auswahl ausländischer Direktinvestitionen in Sektoren,
die zu den eigenen industriellen Stärken passen und die Schaffung von
Anreizen für ausländische Firmen, verstärkt vor Ort zu forschen.
Empfohlen wird in diesem Zusammenhang, sich nicht mehr hauptsächlich
auf steuerliche Anreize zur Steigerung der F&E-Ausgaben zu verlassen,
sondern auch mehr Zuschüsse und auch staatliche Subventionen zu
gewähren.
Darüber hinaus empfiehlt die Studie eine Stärkung von
Universitäten und Forschungseinrichtungen und ihre Verzahnung mit der
Industrie, etwa indem Förderungen für Firmen an die Zusammenarbeit
mit wissenschaftlichen Einrichtungen geknüpft werden. Die forcierte
Ausbildung von hochqualifizierten Fachkräften in
naturwissenschaftlichen Fächern, ihr erleichterter Zuzug aus dem
Ausland sowie verbesserte Finanzierungsbedingungen für innovative
Unternehmen werden ebenfalls angemahnt.
Die gesamte Studie steht hier zum Download zur Verfügung .
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