11.12.2015, 15115 Zeichen
Buchstäblich gesehen wird es freilich zu verneinen sein, dass wir Value Investoren Schafe seien. Die Frage ist natürlich metaphorisch zu verstehen: Sind auch wir, die wir uns am Aktienmarkt mit dem Mut und dem Wissen ausgestattet sehen, als einsame Streiter gegen den Strom zu schwimmen und kühne, profitträchtige Entscheidungen völlig losgelöst von äußeren Einflüssen zu treffen, Herdentiere? Sind wir unabhängig im Denken? Können wir das überhaupt sein? Würde man diese Frage nach dem eigenen Maße an Unabhängigkeit im Denken einer großen Menge Investoren anonymisiert vorlegen, so käme wahrscheinlich ein ähnliches Ergebnis zustande, wie bei einer Umfrage unter eintausend Männern, die ihre Liebhaberqualitäten möglichst ehrlich einschätzen müssten. Der Durchschnitt ist überdurchschnittlich gut.
Warum ist das so? Zum Teil wird das auf einen Schutzmechanismus zurückzuführen sein, der das eigene Selbstwertgefühl und das Selbstbewusstsein abschirmt und somit verhindert, dass uns regelmäßig die einfachsten Dinge misslingen. Es wäre der menschlichen Zivilisation wahrscheinlich nicht besonders dienlich, wenn sie aus acht Milliarden abgesonderten Häuflein Elend bestünde, die sich alleine nichts zutrauen, weil sie in der Vergangenheit ab und zu gescheitert sind und obendrein dieses Scheitern auch noch mit messerscharfem Realismus eingesehen haben. Für den Fortschritt allgemein und die Weiterentwicklung der menschlichen Existenz ist es also ganz gut, dass der einzelne Mensch sich regelmäßig überschätzt und Dinge einfach probiert, selbst wenn die Erfolgswahrscheinlichkeit bei Kenntnis aller Einflussfaktoren gegen einen sprechen würde. Schütten wir doch diese beiden Stoffe einfach mal zusammen und warten ab, was passiert.
Schafe, die zum Markt geführt werden
Auf den Aktienmarkt übertragen birgt diese evolutionär bedingte Kühnheit (oder ist es Naivität?) große Gefahren. In einem komplexen Spiel mit unvollständiger Informationslage und einer großen Anzahl menschlicher Spielteilnehmer wird derjenige am erfolgreichsten sein, der gleichzeitig a) mehr Informationen als seine Transaktionspartner sammelt und der b) weniger „menschlich“ agiert, als der Durchschnitt. Beide Punkte beinhalten ihre Tücken:
Um eine realistische Schätzung darüber abgeben zu können, ob man mehr weiß als sein Transaktionspartner, reicht es nicht aus, möglichst viele Fakten zu sammeln. Man muss auch versuchen zu quantifizieren, was der Transaktionspartner alles weiß. Wie kann ich rational begründbar davon ausgehen, ein höheres Haus zu bauen als mein Nachbar, ohne das Haus des Nachbarn zu sehen? Wenn ich nur einen Zentimeter höher bauen will, muss ich es abmessen. Ansonsten muss ich zumindest so hoch bauen, dass es mit freiem Auge erkennbar ist, dass des Nachbars Haus niedriger ist. Beiden Optionen ist aber gemeinsam, dass man sich mit dem Haus des Nachbarn befassen muss. Konkret heißt das: es reicht nicht aus, möglichst viel über ein Unternehmen herauszufinden. Man muss auch darüber räsonieren, aufgrund welcher Faktenbasis die Mehrheit anders denkt, als man selbst. Findet man ein Unternehmen, das man für unterbewertet hält, muss man buchstäblich herausfinden, warum es unterbewertet ist. Ohne zumindest den Versuch zu unternehmen, abzuschätzen, was die Masse weiß und warum sie so denkt, wie sie denkt, kann man nicht rational begründbar abschätzen, ob man selbst mehr weiß, als diese Masse. Ich muss an dieser Stelle übrigens zugeben, dass ich bei vielen meiner „Cigar Butt“-Investments diesen Faktor bisher sträflich vernachlässigt habe. Hier gibt es Verbesserungspotenzial, dessen Aufarbeitung diesen Blog mit Sicherheit noch lange beschäftigen wird.
Ein Aspekt der Problematik von b) liegt auf der Hand. Will man weniger menschlich agieren als seine Mitspieler, muss man sich gewissermaßen selbst überlisten. Es existieren die vielerorts zitierten irrationalen Impulse Angst, Gier, Fluchtverlangen und verschiedene Arten von „Biases“ auf jeden Fall. Der homo oeconomicus in Reinkultur ist eine utopische Modellannahme, eine Erfindung von Finanztheoretikern, denen die Erfahrung der „echten“ Welt abhanden gekommen ist. Auch der weiter oben genannte Schutzmechanismus gehört zu diesen irrationalen Impulsen. Das damit verbundene Dilemma lässt sich wie folgt auf den Punkt bringen: man muss gewissermaßen rational und objektiv beurteilen, was man alles noch nicht weiß, was die Masse aber schon wissen könnte, und das noch mit dem zusätzlichen Handicap, dass man zur Selbstüberschätzung neigt.
Mehr wissen, als andere. Zu wissen, dass man mehr weiß, als andere. Sich selbst überlisten. Ein „objektives Subjekt“ sein. Geht das überhaupt? Ich weiß es nicht genau. Strapazieren wir Einstein und gehen zunächst davon aus, dass es „relativ“ gesehen möglich ist. Manche Investoren sind dazu eher in der Lage als andere. Ich halte es zunächst für einen geeigneten Ausgangspunkt, sich diese Problematik bewusst zu machen und sie dem Grunde nach zu akzeptieren. In einem zweiten Schritt kann man sich die Frage stellen, welche Aspekte in der eigenen, alltäglichen Investmentpraxis diese Problematik noch verstärken. Möglicherweise kann man in einem dritten Schritt den einen oder anderen Störeinfluss eliminieren.
Warum sind wir solche Schafe?
Fragt Euch selbst, ob Ihr bei der Analyse eines Unternehmens unbefangen an die Sache herangeht. Ja? Tretet einen Schritt zurück und denkt nach, wie Ihr dieses Unternehmen „gefunden“ habt, wie es gewissermaßen auf Eurem „Schirm“ aufgetaucht ist. Stammt es aus einer Liste mit Mehrjahreskurstiefs? Ist es das Ergebnis eines Screenings mit bestimmten Kennzahlen? Habt Ihr in der Zeitung von den Problemen des Unternehmens oder der Branche, in der es tätig ist, gelesen? Hat Euch ein befreundeter Investor davon erzählt? Entspringt die Investmentidee einem Value-Blog, den Ihr gerne lest? Seid Ihr im Alltag zufriedener Verwender der Produkte und interessiert Ihr Euch nun für das dahinterstehende Unternehmen? Bei so ziemlich jeder Vorauswahl setzt man auf einer bestimmten, vordefinierten Meinung auf. Ob diese Meinung nun von einem Individuum stammt oder vom Kollektiv des Marktes, spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Gänzlich unbefangen kann man meines Erachtens nicht an die Beurteilung eines Unternehmens herantreten. Akzeptieren wir am Besten auch diesen Umstand dem Grunde nach.
Wie sieht es dann bei der Bewertung selbst aus? Für diejenigen unter Euch, die ein DCF-Modell zur Bewertung eines Unternehmens verwenden, ist die sinnvolle Wahl der Zinssätze ein großes Kriterium. In einem früheren Artikel habe ich bereits das folgende Phänomen angesprochen: Wenn Ihr für die Fremdkapitalkosten im WACC von den am Markt beobachtbaren Anleiherenditen ausgeht, verwendet Ihr auch eine vorgefasste Meinung, die die Situation korrekt abbilden kann, aber nicht muss. In so einem Fall nehmt Ihr die Einschätzung des Anleihemarktes über das Risiko im Unternehmen für die Anleihegläubiger als gegeben an und weil ja der Eigenkapitalgeber aus Senioritätsgründen ein höheres Risiko trägt, als der Anleihegläubiger, muss der zu verwendende Zins für das Eigenkapital noch höher sein. Was, wenn der Anleihemarkt falsch liegt? Aus den bereits genannten, der menschlichen Eigenheit entspringenden Gründen wird der Anleihemarkt bei der Beurteilung von fundamentalen, die Zukunft des Unternehmens betreffenden Fragen genausooft irren wie der Aktienmarkt. Freilich kann man einwenden, dass in den allermeisten Fällen die ursprünglich beobachtbare Einschätzung des Marktes durch die eigene Beurteilung untermauert wird. Das ist völlig richtig, aber es geht eben genau darum, diese wenigen Fälle aufzudecken, wo die Einschätzung des Marktes falsch ist.
Ein weiterer Aspekt im Investorenalltag ist die meist lange Haltedauer eines Aktienpaketes, während der man tunlichst auch über das Geschehen im Unternehmen am Laufenden bleiben sollte. Viele Investoren und Autoren von investmentphilosophischen Texten schwören darauf, die alltäglichen Kursbewegungen der eigenen Investments nicht zu beachten. Ich möchte hier die Frage aufwerfen: Kann man das überhaupt tun, ohne dass sowohl die Qualität der während der Behaltedauer fortlaufenden Analyse als auch die Tiefe der eigenen Handlungsoptionen leiden? Nahezu jeder Quartalsbericht deutschsprachiger Unternehmen beinhaltet auch die eine oder andere Seite zum Kursverlauf der Aktie im Berichtszeitraum. Die könnte man auslassen. Mitunter verstecken sich dort aber auch relevante Informationen. Ähnlich verhält es sich mit dem Lesen der wirtschaftlichen Tagespresse und des weltpolitischen Geschehens. Man kann es bleiben lassen, dann leidet aber die Urteilsfähigkeit zum Teil so stark, dass man nicht mehr in der Lage ist, die eigenen Unternehmen korrekt zu beurteilen. Denn selbstverständlich spielt es für den kleinen Investor in die österreichische Voestalpine eine Rolle, ob in China eine Immobilienblase besteht oder nicht. Und wie will man das wissen, wenn man keine Zeitung liest? Aber wehe, wenn man die Zeitung liest, völlig entspannt, unvoreingenommen, und rechts unten erhascht das Auge dann plötzlich eine Einblendung, die erkennen lässt, dass der DAX heute schon fünf Prozent im Minus liegt… dann dreht sich die Spirale, ob man will, oder nicht… Fünf Prozent, da muss doch irgendwas besonderes vorgefallen sein. Hat vielleicht die EZB schon…?. Das war`s dann mit der Unvoreingenommenheit. Diese Dinge zu unterdrücken oder im Geiste wieder zurechtzubiegen kostet Unmengen an mentaler Energie. Wieviele qualitativ hochwertige Wirtschaftsmedien gibt es, wo einem nicht permanent irgendwo Aktienkurse eingeblendet werden? Außerdem: wie will man von den zeitweise auftretenden hemmungslosen Überbewertungen profitieren, indem man an den manischen Mr. Market verkauft, wenn man die Aktienkurse nicht verfolgt? Man kann Mr. Market nicht ausnutzen, wenn man ihn gar nicht erst ins Haus lässt.
Überhaupt stellt sich eine ähnliche Frage auch bei der Festlegung der eigenen Investmentstrategie. Man liest zehn Bücher über Value Investing, in denen steht, dass man gegen den Strom schwimmen und sich seine eigene Meinung bilden muss, dass es Unterschiede zwischen Preis und Wert gibt, dass der Markt manchmal verrückt spielt und schon neigt man dazu, sich Fähigkeiten im unvoreingenommenen Denken anzumaßen, nur weil man davon gelesen hat, dass solches hilfreich sei. Millionen Menschen weltweit denken wahrscheinlich im selben Moment genauso und machen aus dem gefühlten Individualisten genau dieses Herdentier, das er so verachtet. Man liest, dass Value Investing der „richtige“ Ansatz sei und akzeptiert als Begründung dafür, dass Warren Buffett und andere damit sehr reich geworden sind. Wenn ich mich in den Mercedes von Lewis Hamilton setze, mir Diamantohrringe anstecke und mitunter etwas zickig werde, habe ich noch lange keine Garantie, Weltmeister zu werden. Möglicherweise werde ich sogar verhaftet. Das ist also ein Trugschluss. Value Investing ist dann der „richtige“ Ansatz, wenn man über ähnliche Fähigkeiten wie Warren Buffett und die anderen verfügt. Wenn dem nicht so ist, kann es vielleicht sogar kontraproduktiv sein, weil eine Indexstrategie einträglicher wäre. Und seine eigenen Fähigkeiten korrekt einzuschätzen… naja, das hatten wir zuvor schon…
Die letzte Tücke im Investmentalltag, die ich in diesem Artikel behandeln möchte, ist das ergebnisbezogene Denken. Wenn ich einen Apfel hochhebe und dann auslasse, fällt er zu Boden. Wenn ich Unmengen an Bier trinke, werde ich betrunken. Wenn ich eine Aktie kaufe und sie steigt, habe ich gut und richtig gehandelt. Menschen neigen dazu, Kausalzusammenhänge einfach und linear zu sehen und sich damit abzufinden, dass es „eben so ist“. Dabei wird gerne, ob es nun aus Faulheit oder Ignoranz geschieht, übersehen, dass jeder Kausalzusammenhang von einer Unzahl an Facetten beeinflusst wird, die den konkreten Umweltzustand bedingen. Ob der Apfel zu Boden fällt, hängt davon ab, ob im konkreten Umweltzustand die Erdanziehungskraft groß genug ist, um nicht von gegenläufig wirkenden Kräften überlagert zu werden. Ob und wie betrunken ich werde, hängt von meiner Körpermasse, meiner Tagesverfassung, der zuvor aufgenommenen Nahrung und meiner generellen Alkoholtoleranz ab. Die Richtigkeit des Handelns an der Börse wird nicht nur durch den outcome an sich definiert, sondern vor allem dadurch, ob die Faktoren und Werttreiber, auf die man seine ursprüngliche Entscheidung aufgesetzt hat, sich so entwickelt haben, wie man es erwartet hat. Wenn ich heute beispielsweise ein kleines Technologieunternehmen erwerbe, weil ich der Meinung bin, dass sich ihr Produkt am Markt durchsetzen wird, und ein Jahr später findet man unter dem Fabriksgelände eine enorme Goldader, was den Aktienkurs in die Höhe treibt, habe ich dann richtig gehandelt? Natürlich nicht. Das ist klarerweise ein banales Beispiel, es geht mir aber ohnehin um das Prinzip dahinter. Manchmal lässt der outcome auf die Richtigkeit des Handelns schließen, manchmal aber nicht. Diese Einsicht ist meines Erachtens äußerst wichtig, wenn man am Aktienmarkt konstruktiv aus eigenen Fehlern lernen möchte. Der Fehler als solcher lässt sich nämlich nicht schon dadurch erkennen, dass der Kurs (noch) nicht dort hin läuft, wo man ihn gerne hätte. Man muss tiefer graben und untersuchen, ob man die zum Zeitpunkt der Entscheidung verfügbaren Informationen korrekt ausgewertet hat oder nicht. Ein Beispiel aus meiner eigenen Praxis, wo mich dieses Phänomen derzeit beschäftigt, ist meine Ölwette. Sehr viele der Unternehmen habe ich zu Zeiten erworben, wo der Ölpreis mehr als doppelt so hoch war, als jetzt. War der Kauf damals eine schlechte Entscheidung, weil der Ölpreis nach dem Kauf so gesunken ist? Erkennt Ihr die Analogie zum etwas kindlich gewählten Beispiel mit der Technologiebude?
Abschließende Bemerkungen
Fassen wir zusammen: Der Mensch tut sich schwer damit, das eigene Handeln realistisch einzuschätzen. Es existieren unzählige Störfaktoren, die uns beeinflussen, manche bewusst, manche unbewusst. All diese Faktoren führen außerdem dazu, dass wir wahrscheinlich mehr „Schaf“ sind, als uns lieb ist. Das mag für den einen oder anderen zunächst eine ernüchternde Erkenntnis sein. Man akzeptiere es dem Grunde nach!
Manche der Dinge, die ich in diesem Artikel niedergeschrieben habe, werden Euch wie seichte, ja geradezu offensichtliche Binsenweisheiten vorkommen. Vielleicht ist aber auch die eine oder andere Sichtweise dabei, die Euch inspiriert und zum eigenständigen Weiterdenken anregt. Genau darum geht es mir. Selbst wenn man die Tatsache, dass es so etwas wie die völlige Unbefangenheit nicht geben kann, akzeptiert: Ich kenne keine andere Methode, um das eigene Denken zumindest relativ gesehen etwas unabhängiger zu machen, als sich regelmäßig hinzusetzen und auch das scheinbar Offensichtliche zu hinterfragen. Dabei wird man sehr, sehr viele leere Meter machen und so manchen wird solche Gedankenarbeit auch abstoßen oder unberührt lassen. Manchmal könnte dabei aber ein Geistesblitz auftauchen, der einen insgesamt weiterbringt und das rechtfertigt meiner Meinung nach die Mühe.
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Börsepeople im Podcast S15/17: Dominik Lindner
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